NEUE HEIMAT

Jan Böttcher begibt sich mit seinem Romandebüt „Lina oder: das kalte Moor“ an den Rand der alten Bundesrepublik

(Rezension von Kolja Mensing für die eDIT)

Als die Hochhaussiedlung in den Sechzigerjahren gebaut wurde, versuchten die Planer der Neuen Heimat hier, am Rand einer niedersächsischen Stadt, ein Idyll zu schaffen. Komfortable Wohnungen und großzügige Höfe mit Fußballfeldern und Spielplätzen versprachen die ideale Wohnumgebung zwischen Stadt und Land, und die Skyline der Siedlung sollte sich wie ein malerisches Gebirgspanorama in der ansonsten flachen Landschaft erheben.

Damals dachte man, dass man im 16. Stock dem Himmel näher sei. Die Wirklichkeit sah jedoch sah anders aus. Die trostlosen Gänge und Flure der Hochhäuser ähnelten sich so sehr, dass man sie im Inneren nicht voneinander unterscheiden konnte, im Hof saßen immer die gleichen zwei pädophilen Sozialverlierer auf einer Bank und versuchten, den kleinen Mädchen beim Rutschen unter den Rock zu starren, und die Kiefern, die man überall gepflanzt hatte, konnten auch nicht verhindern, dass hinter den eintönigen Baumreihen eine Straße genauso trostlos aussah wie die andere. Kurz: „Teile des Wohngebietes waren ohne Wut auf seine Planer und Architekten gar nicht zu durchqueren“, befindet der jugendliche Erzähler in Jan Böttchers Roman „Lina oder: Das kalte Moor“ gleich auf den ersten Seiten. Es war nicht der Himmel, es war die Hölle.

Der Autor Jan Böttcher wurde 1973 in Lüneburg geboren. Man darf davon ausgehen, dass sein Debüt sich nicht nur auf Recherchen, sondern auch auf eigene Erfahrungen stützt, auch wenn er die westdeutsche Provinz mittlerweile hinter sich gelassen hat, um den Himmel anderswo zu suchen. Wie viele andere zog Jan Böttcher in den Neunzigerjahren nach Berlin. Heute lebt er hier als freier Werbetexter, als Schriftsteller und Musiker. Vor fünf Jahren hatte er unter dem Titel Kook ein Musiklabel gegründet, auf dem unter anderem seine eigene Band Herr Nilsson veröffentlicht wurde. Bald richtete Kook auch Lesungen aus, es erschien eine Anthologie mit Gedichten und Kurzgeschichten, und im vergangenen Jahr machte Daniela Seel aus der Literaturabteilung des Labels dann den eigenständigen Verlag kookbooks. Den Pressemitteilungen konnte man entnehmen, dass kookbooks „liebevoll aufgemachte Bücher“ verlegen wollten. Wer bei dieser Formulierung an Lesebändchen und gut gemeinte Holzschnitte dachte, wurde angenehm überrascht. Der Illustrator Andreas Töpfer hat dem Verlag ein angenehm zeitgemäßes Design verpasst, das sich mit seinen kalt eingefärbten, technizistischen Umschlagentwürfen und klobigen Typen an grob gepixelte Computergrafiken anlehnt. Auch die transparenten Schmuckseiten, die zwischen Umschlag und Vorsatzpapier geschoben sind, erinnern eher an die Entwürfe eines futuristischen Architekturbüros als an traditionelle Buchkunst – und führen darüber hinaus ohne Umweg in den Text. Der Roman „Lina oder: das kalte Moor“, das zusammen mit Jan Böttchers Hörbuch „Der Krepierer“ zu den ersten Veröffentlichungen des jungen Verlags gehört, beginnt mit den stark vereinfachten Aufrissen von mehrgeschossigen Wohnhäusern.

Damit ist man beim Thema. Jan Böttcher hat schon deshalb ein ungewöhnliches Buch geschrieben, weil Hochhaussiedlungen in der jüngeren westdeutschen Literatur bisher nur selten als Kulisse dienen. Während sich die jungen ostdeutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen seit der Nachwendezeit in ihren Romanen, Erzählungen und biografischen Essays immer wieder in die sozialistischen Plattenbauten begeben, um dort ihrer verlorenen Kindheit nachspüren, sind die bevorzugten Orte der Literatur aus dem anderen Teil Deutschlands die Altbauviertel der großen Städte, allen voran Berlin. Auch die „neue Heimatliteratur“, die seit Christoph Peters’ Debüt „Stadt, Land, Fluß“ eine gewisse Aufmerksamkeit erfährt, erzählt lieber von der engen Welt in den Dörfern und Kleinstädten, als von den weitläufigen, anonymen Mietskasernen der Neuen Heimat, die die zersiedelte Landschaft der bundesrepublikanischen Provinz entscheidend mitgeprägt haben.

Die Fluchtlinien sind allerdings die gleichen: Man muss hier raus. Jan Böttchers namenloser Erzähler und seine Freundin Lina, die ebenfalls in einem der Hochhäuser lebt, spüren einen „Zwang zu einer unaufhörlichen Bewegung“ in sich, und darum trägt ihre Liebe von Anfang an Turnschuhe: „Miteinander gehen, sagten die anderen, miteinander laufen, dachten wir.“ Täglich trainieren sie für die Flucht in ein anderes Leben, rennen mit der Stoppuhr in der Hand durch das „kalte Moor“, nach dem die Hochhaussiedlung (und auch der Roman) benannt worden sind, und stellen mit der gespenstischen Betonkulisse im Rücken
immer neue Rekorde auf.

„Voran, voran! Nur immer im Lauf, / Voran, als woll es ihn holen“: Natürlich muss man bei diesen kleinen Fluchten an die alten, atemlosen Verse Annette von Droste-Hülshoffs denken – und an ihren von Irrlichtern und Geistern verfolgten „Knaben im Moor“, der gerade noch dem sicheren „Grab im Moorgeschwele“ entkommt. Eine gewisse Todessehnsucht spürt man auch bei Jan Böttcher, der seine Liebenden bei einem ihrer Ausflüge in die Natur einmal bis zu den Schultern im brackigen Wasser versinken lässt. Doch zuletzt ist der Sumpf hier keine Metapher für die dunklen Abgründe der Seele, sondern der letzte Lichtblick inmitten der flächenversiegelten Kulturlandschaft: „Das kalte Moor, das sich immer auf Distanz gehalten hatte durch seine Wände und seine Begrifflichkeiten, hier klebte es an unseren Körpern, mit dem Geruch des Verwesten, des Gewesenen. An dieser einen Stelle, in einem Dickicht von gut siebzig Metern Länge, hatten sie es nicht dichtgemacht, das Moor. Nicht zugeschüttet, nicht trocken gelegt.“

So ist „Lina oder: Das kalte Moor“ dann auch eher eine traurige als eine tragische Liebesgeschichte. Der Erzähler interessiert sich mehr für Linas „Lungenvolumen“ als für ihre Körbchengröße, und spätestens wenn er während ihrer endlosen Läufe die Trainerrolle übernimmt und sie Angst bekommt, dass „ihr Körper ihn enttäuschen könnte“, ahnt man, dass aus den beiden nichts werden wird. In den engen Treppenhäusern der Hochhaussiedlung ist kein Platz für die große Liebe, und die federnden Stahlträger der Wohnhäuser fangen selbst die größten emotionalen Erschütterungen noch sanft ab. Selbst als der Erzähler seinen Vater in einer der Nachbarwohnungen beim Ehebruch erwischt, passiert nichts weiter, als dass es zwischen den Hochhäusern noch ein wenig stiller wird: „Ich hatte keine Worte dafür. Und ich wusste nicht einmal, ob die Sprache dafür keine Worte vorsah oder ob ich sie einfach noch nicht gelernt hatte.“

Darum geht es. Jan Böttchers Erzähler kämpft mit der Sprachlosigkeit, und es ist ein Kampf, der mit jeder Seite aussichtsloser wird. „Ich kann hier nicht weiterleben“ ist der einzige Satz, an dem er sich dabei festhalten kann, und selbst diese Worte werden ihm zuletzt genommen. Kurz bevor er mit Lina die Flucht aus den dumpfen Verhältnissen der Hochhaussiedlung ergreifen will, beschließt sein Vater, der sich in der Firma hochgedient hat, den Umzug in ein Einfamilienhaus auf dem Land. Der Segregationsprozess, der einen großen Teil der aufstrebenden Mittelschichten bereits seit den späten Sechzigerjahren und bis heute zuerst an den Rand der Städte und dann ins Grüne treibt, macht den Erzähler zu einem rebel without a cause „Man sagt mit siebzehn: Ich kann hier nicht mehr weiterleben, alles soll Konsequenzen haben – und genau an diesem Punkt stellte sich mein Vater hin und nahm den Schritt vorweg.“

Das ist vielleicht die traurigste Erkenntnis in diesem desillusionieren und damit äußerst zeitgemäßen Heimat-Roman. „Lina: oder das kalte Moor“ erzählt eine Geschichte aus einer neuen und modernen Provinz, für die die Literatur bisher kaum Worte hatte. Mit Jan Böttcher lernen wir die ersten Vokabeln.

KOLJA MENSING

Jan Böttcher: Lina oder: Das kalte Moor“. kookbooks. Idstein, 2003