"Die Leute hier sind total nett"

Dokumentarfilmer über Erfahrungen in Grohner Düne
Von unserer Redakteurin
Patricia Brandt

Grohn. "Und dann fällt mir ein, dass ich es schon wieder vergessen habe. Trotz der roten Schilder, die überall hängen: Zu ihrer Sicherheit wird diese Wohnanlage durch Videokameras 24 Stunden überwacht." Ein Tagebucheintrag von Kolja Mensing. Der Schriftsteller lebt seit mehr als einer Woche mit dem Videokünstler Florian Thalhofer in der Grohner Düne. Am Ende ihres vierwöchigen Aufenthalts wollen sie Material für einen Dokumentarfilm zusammen haben.

Nur gleichförmige Fenster unterbrechen die kahlen Hochhauswände. Die Grohner Düne - das sind 420 Wohnungen mit 1500 Bewohnern. Im Innenhof ist es an diesem Vormittag dennoch leer. Nur eine Mutter spielt mit ihrem Kind im Sandkasten, ein Hausverwalter kontrolliert, ob in den Büschen Müll liegt. Ganz oben, im 13. Stock, winkt jemand. Mensing und Thalhofer.

"Die Wohnung ist schön", sagen beide und führen durch helle, quadratische Zimmer. Am Ende des Rundgangs bitten sie auf den mit einem Netz gesicherten Balkon, der den Blick frei gibt auf grüne Wiesen und Bäume. Die Wahl-Berliner, Jahrgang 1971 und 1972, wollen wissen, wie es ist, hier oben zu leben. Anstoß für ihre Idee von einem interaktiven Dokumentarfilm fürs Internet gab die Projektreihe "Du - Die Stadt" der Arbeitnehmerkammer" (wir berichteten).

"Das ist ein widerlicher Bau", soll ein anonymer Anrufer gesagt haben, der von ihrem Projekt in der Zeitung gelesen hatte, "Ich wohne hier seit 15 Jahren. Die Grohner Düne ist eine Hochburg der Kriminalität." Aussagen wie diese sind bisher die Ausnahme. Florian Thalhofer: "Die Leute hier wollen den schlechten Ruf nicht bestätigen. Sie finden es hier lebenswert."

Ihre Interviews führen die Dokumentarfilmer in die unterschiedlichsten Wohnungen und zu den unterschiedlichsten Menschen: "Die Leute hier sind wahnsinnig aufgeschlossen und total nett", meint Mensing. Da ist zum Beispiel Karin Witt, die aus dem Schwarzwald stammt, "nie hierher ziehen wollte" und jetzt auf eigene Rechnung das Haus putzt. "Mein Mann lacht schon immer über mich und meint, dass ich irgendwann noch mal meinen Radius bis zum Sedanplatz ausbreite", erzählt sie.

Die 61-Jährige räumt den Müll hinter ihren Nachbarn her, weil sie keinen Dreck ertragen kann. Trotzdem findet sie nur freundliche Worte für die anderen Bewohner. Selbst, dass neulich ein Junge ihre Rosen am Eingang abgerissen hat, nahm sie nach einer Entschuldigung nicht weiter krumm. "Ein ideales Wohnprojekt dieser Größenordnung gibt es nicht. Wo viele Menschen zusammenleben, gibt es immer Probleme", stellt die Altenbetreuerin klar. Doch die Krise aus den Achtzigern, als die Wohnanlage als sozialer Brennpunkt galt, sei mit der Videoüberwachung überwunden. Der Film von Mensing und Thalhofer, hofft sie, räume vielleicht mit den alten Vorurteilen auf.

Kolja Mensing und Florian Thalhofer knüpfen auch Kontakte außerhalb der Blöcke. Zum Beispiel mit Frank Melchert. Der 40-jährige Erzieher gehörte als Sohn einer zehnköpfigen Familie von 1973 bis 1982 zu den Bewohnern der Grohner Düne. Heute lebt er in einem Mehrfamilienhaus in der Nähe der International University Grohn. Früher sei es im Innenhof des Siebziger-Jahre-Komplexes viel grüner gewesen, erinnert er sich: "Überhaupt, vor 30 Jahren war das da ein ganz anderes Leben. Es gab sehr viele Großfamilien. Die Wohnungen waren ja preisgünstig." Als er bei den Eltern auszog, habe sich der Wandel der Anlage bereits abgezeichnet: "Es gab Alkoholprobleme, Arbeitslosigkeit und Aggressionen."

Die Dokumentarfilmer lassen Bewohner, ehemalige Bewohner und deren Nachbarn zu Wort kommen. Im Tagebuch ist zum Beispiel die Rede von einem Wachmann aus dem benachbarten Einkaufszentrum: "Die Leute aus den Wohnblöcken", sagt der, "die wollen nur ihre Ruhe. Die wollen nicht, dass die Polizei immer zuerst zu ihnen kommt. Ordentliche Leute sind das." Erst kürzlich habe es eine Schlägerei im Einkaufscenter gegeben. Es seien Männer aus dem Hochhaus gewesen, die geholfen hätten, die Lage in den Griff zu bekommen.

Die Norddeutsche, 14.8.2004